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#5 Berlin Kreuzberg 1969




  • 1969 West-Berlin. Kreuzberg. APO. Außerparlamentarische Opposition. Bullen. Polizei. Strassenschlachten. Krawalle. Studenten. Linke. Springer. Springer-Hochhaus. Kochstrasse.
    1969 West-Berlin Kreuzberg. Die APO inszeniert heftige, tagelange StrassenSchlachten.

    Neue Welt!

    Hab mit Glück schon ne Menge erreicht: Gymnasium geschmissen, Lehre als Schriftsetzer bestanden, der Bundeswehr entkommen und jetzt West-Berlin. Meine Adresse: Kreuzberg, Sorauer Str. 13, Hinterhof Parterre. 30 Quadratmeter, Ofenheizung, fließend Kaltwasser, Klo auf dem Treppenabsatz für 2 Wohnungen, kein Bad und sowas von total verwohnt – ein Bombentrichter. Aber … Miete 19,19 Mark im Monat – ob Du’s glaubst oder nicht. Die Sorauer Strasse – kein Baum kein Strauch, zerschossene Häuserfassaden vom Krieg, der Görlitzer Bahnhof 100 Meter nach rechts – damals noch ein Schuttabladeplatz vom Senat.

     

    Unter den Bambule-Freaks!

    West-Berlin, die erste Stadt in Europa, in der die Studenten gewaltbereit rebelliert haben, Randale machten gegen den Vietnamkrieg, Gott und die Welt. Überall wohnen Freaks mit langen Haaren und Bärten. Leben in WG’s, oft versifft bis zum Anschlag. Himmel, wo bin ich behüteter Münsteraner gelandet …?! Mitten in der Kreuzberger Kommunenwelt. Beinahe täglich ging die Meute zum Protestieren auf die Straße und zum Sturm auf die Springerzentrale Kochstrasse. Ramba Zamba mit der Polizei war immer das Highlight des Tages. Danke, mein ältester Bruder – er und seine Freakkumpels sehen mein verstörtes Gesicht, bieten mir einen Joint an und kichert sich schlapp. Joint – neee lass mal, aber ein Bier gern – das Bier ist schön lauwarm. 

     

    Mach die Bude schön!

    Aber egal, jetzt mach mer die Hütte erstmal n bisschen hübsch, die Kohle ist ja dank Senatsdarlehn da. Also raus mit dem ganzen Dreck und runter mit den alten Tapeten. Und her mit Farbe und Auslegware für den krummschiefen Dielenboden. Schlafen – erstmal Matratze, bald aber ein anständig großes Bett und eine Modul-Sitzgruppe und sogar Fenstervorhänge – alles in blau, weiß und orange – grell aber yeahhh! Ok, so kann ich fürs Erste leben. Ach, und ein eigenes Telefon auch noch. Täglich Katzenwäsche in der Küche und am Wochenende Stadtbad Schöneberg. Da heißt es „Wanne (0,50) oder Dusche (0,30)?“ Fürs Erste muss das gehen – Miete 19,19 Mark – you can’t have it all. 

     

    Kariere? Boah eh!

    Ach ja, und ne Arbeit brauch ich ja auch – und wieder lachen sich die Freaknachbarn schlapp. Die gehn nur wenn’s eng wird zum Sklaven-Johann – vermittelt Brutalojobs für Hungerlohn. Aber ich als fertiger Schriftsetzer-Geselle gehe zum Arbeitsamt. Als wenn die auf mich gewartet hätten – keine Schriftsetzer in Berlin aber 5 offene Stellen – zum Aussuchen. Lande bei einer Druckerei für religiöse Schriften nahe am U-Bahnhof Schlesisches Tor. Mein erster Monatslohn 672 Mark brutto – fast 50% mehr als in Münster. Chaka! Großer Laden, nette Kollegen und ein cooler Meister. Nach paar Monaten drückt er mir morgens eine Kleinanzeige in die Hand und 20 Pfennig: „Hier ruf jetzt gleich unten von der Zelle an, bewerb Dich, ist die Zukunft, mach jetzt gleich. Haste aber nich von mir!“ Die Schriftgießerei H. Berthold AG am Mehringdamm sucht junge Schriftsetzer für die Weltneuheit Fotosatz. Drei Tage später Vorstellung – 50 weiteren Kandidaten. Erst schriftlicher Test, 25 bleiben zum mündlichen Test, 10 für Einzelgespräche. Und ich bin einer von drei Glücklichen. Hammer und danke an den coolen Meister. Neuer Monatsbruttolohn 785 Mark. Ich glaub es nicht – gibt es soviel Glück auf einmal?!

     

    Wie war’s mit Deiner ersten Wohnung? Und mit dem ersten Gehalt? 

     

    Ewiges Glück oder doch ein Tiefschlag …?!  Hier in ein paar Tagen.

     

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